Von Peter Ittermann und Johannes Dregger | TU Dortmund – Eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung des Projekts Industrie 4.0 im Sinne einer umfassenden Systemgestaltung ist der Ansatz des sozio-technischen Systems. Der gestaltungsorientierte Ansatz geht davon aus, dass der Einsatz neuer Technologien organisatorische und personelle Veränderungen induziert und grundsätzlich den Blick auf das Gesamtsystem der Leistungserstellung in Produktion und Dienstleistung erfordert.

Der Begriff des sozio-technischen Systems selbst hat schon seit geraumer Zeit einen prominenten konzeptionellen und analytischen Stellenwert in der Arbeitsforschung – insbesondere bei der Untersuchung und Gestaltung technisierter und automatisierter Arbeitsprozesse. Obgleich nicht immer einheitlich definiert, wird unter einem sozio-technischem System grundsätzlich eine Produktionseinheit verstanden, die aus interdependenten technologischen, organisatorischen und personellen Teilsystemen besteht. Zwar begrenzt das technologische Teilsystem die Gestaltungsmöglichkeiten der beiden anderen Teilsysteme, jedoch weisen diese eigenständige soziale und arbeitspsychologische Eigenschaften auf, die wiederum auf die Funktionsweise des technologischen Teilsystems zurückwirken. Damit geht es nicht um die Frage eines »Entweder Technik oder Mensch«, sondern um das Ziel einer aufeinander abgestimmten Gestaltung der gleichwertigen Parameter des sozio-technischen Gesamtsystems.

Komplementarität von Mensch und Technik: situationsangepasste Flexibilität und humanzentrierte Gestaltung der Arbeit

Die Perspektive des sozio-technischen Systems hat Eingang in den aktuellen Diskurs der Digitalisierung und Industrie 4.0 gefunden. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass sich in der Logistik besonders viele Ansatzpunkte bieten. Zum einen, weil deren Wirkungskraft durch die Erstreckung über Unternehmensgrenzen hinaus von besonderer Reichweite ist. Zum anderen, weil die Logistik gesellschaftliche Trends, wie beispielsweise Sharing Economy, in neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen für die Industrie überführt – zum Beispiel Pay per Use. In den technologiezentrierten Diskursen findet jedoch häufig eine Reduzierung des Ansatzes auf »neue« Formen der Mensch-Technik-Kollaboration oder auf neue Arbeitsorganisationen auf der Basis intelligenter Assistenzsysteme statt. Bedeutsam ist hingegen eine komplementäre Gestaltung der einzelnen Systemelemente zu einem aufeinander abgestimmten Gesamtsystem: Komplementarität meint dabei, dass situationsabhängig die spezifischen Stärken und Schwächen von Technik und Mensch gleichermaßen Berücksichtigung finden und eine Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine entworfen wird, die eine störungsfreie und effiziente Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems ermöglicht. Bei der komplementären Gestaltung des Gesamtsystems sollte das leitende Kriterium stets sein, dabei die Potentiale einer humanorientierten Gestaltung der Arbeit bestmöglich auszuschöpfen. Somit werden dem menschlichem Arbeitshandeln nicht lediglich fragmentierte Restfunktionen bei ausgeprägten Kontrollstrukturen zugewiesen, sondern explizit neue Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeit betont.

Social Manufacturing: Schnittstellen als Gestaltungsräume

Die zentralen Gestaltungsräume eines Social Manufacturing sind daher weniger die Funktions­weisen der einzelnen Teilsysteme von Technik, Mensch und Organisation, sondern vielmehr deren Interdependenzen: Konkret geht es um die Auslegung der funktionalen Beziehungen bzw. der Schnittstellen zwischen technischem, menschlichem und organisationalem System. Insgesamt gesehen bietet dieses Leitbild eine hinreichende Voraussetzung für die Ausschöpfung der technologischen und ökonomischen Potenziale des automatisierten und ggf. individualisierten Produktionssystems. Für deren konkrete Ausgestaltung spielen neben funktionalen und ökonomischen Erfordernissen vor allem die normativen Vorgaben über humanorientierte Arbeit sowie divergierende soziale und arbeitspolitische Interessenlagen eine wichtige Rolle. Abzusehen ist, dass erhebliche Anstrengungen der Akteure in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft erforderlich sein werden, um das skizzierte Leitbild einer künftigen industriellen Arbeits- und Produktionswelt Realität werden zu lassen.

Dortmund, März 2017

Zum Weiterlesen: Ittermann, P., Niehaus, J., Hirsch-Kreinsen, H., Dregger, J., & ten Hompel, M. (2016): Social Manufacturing and Logistics. Gestaltung von Arbeit in der digitalen Produktion und Logistik. Dortmund

Über die Autoren

Dr. Peter Ittermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsgebiet Industrie- und Arbeitsforschung der Technischen Universität Dortmund. Dipl.-Logist. Johannes Dregger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Maschinenbau der Technischen Universität Dortmund.